Unweigerlich, und mittlerweile mit etwas weniger Bedauern von meiner Seite, musste ich mit der Zeit feststellen, dass mit fortschreitendem Alter diejenigen Menschen immer weniger werden, mit denen man eine gepflegt tiefergehende Unterhaltung führen kann. Ich meine die Art von Unterhaltung, aus der man zwar potenziell geschlaucht, verwirrt, vielleicht kopfschüttelnd, aber letztlich gestärkt hinaus geht und sich darüber freut, Menschen um sich zu haben, die eine Meinung haben und diese auch teilen können. Regula Stämpfli ist einer dieser Menschen.
Regula Stämpfli über Abhängigkeiten und Kriegserklärungen
Wir begegnen einander in einem Hotel in Wien. Sie ist in der Stadt um über ihr neuestes Buch Trumpism: Ein Phänomen verändert die Welt zu sprechen. Und dies war letztlich auch der Aufhänger, unter dem sie mir vorgestellt wurde. Doch die nächsten zwei Stunden sollten vergehen ohne, dass wir tatsächlich ernsthaft auf das Buch zu sprechen kommen. Hunderte andere Themen finden dafür ihren Weg in unser Gespräch.
Unsere Unterhaltung ist sprunghaft. Von der Unterdrückung der Frauen, der Französischen Revolution und unserem festgefahrenen gesellschaftlichen System ist die Rede. Wir sprechen über Benachteiligungen im Beruf und akademischen Stallgeruch, über unsere Kinder und warum es im vielerlei Hinsicht heute schwieriger ist sie groß zu ziehen, als dies früher der Fall war. Und nicht zuletzt geht es um frühe und spätere Erfahrungen, die sie letztlich zu dem gemacht haben, was und wer sie heute ist.
An ein paar entscheidenden Punkten ihres Lebens begab es sich, dass sie auf Basis ihrer Herkunft, ihrer Vorgeschichte, ihres Geschlechts, nicht mehr weiter kam, ihr der nächste „logische“ Schritt verwehrt wurde. „Sie sind sicher nicht die zukünftige Elite dieser Nation!“ soll ihr Deutschlehrer, damals in der Schweiz, zu ihr gesagt haben, als Referenz auf ihre Arbeiterklassen-Elternhaus. Und es war wohl dieser Kriegserklärung geschuldet, dass daraufhin in der damals 14jährigen das Feuer des Widerstands ausbrach, das sich bis heute halten sollte.
Ihr Selbstvertrauen und das Interesse an der Gesellschaft waren weitere Grundpfeiler ihrer Geschichte. Und so tut Regula Stämpfli heute das, was sie eben tut. Als Historikerin und Politikwissenschaftlerin irritiert sie ihre Umwelt mit großem Vergnügen, denn nur dadurch kann man die Gesellschaft, so scheint es, zum Umdenken und Handeln bewegen.
Die persönliche Weiterentwicklung
Wir sprechen viel über persönliche Weiterentwicklung und darüber, wie man für sich selbst den vermeintlich richtigen Lebensweg findet. Dabei drehen wir uns oft im Kreis. Immer wieder kommen wir auf das Thema Kinder zu sprechen. „Es sollte normal sein, dass man Mutter oder Vater sein darf und gleichzeitig arbeiten geht – ohne schlechtes Gewissen. Wir brauchen ein Modell, in dem nicht auf 100%ige zeitliche Verfügbarkeit des Menschen für die Arbeit gesetzt wird“, sagt sie fest entschlossen.
Wie komme ich davon los, frage ich sie und bekomme eine einfache und gleichzeitig schwerwiegende Antwort zurück: „Indem du es machst.“ Sie meint, indem ich mir meine eigene Arbeitswirklichkeit erschaffe, indem ich einfach beginne sie zu leben. Nur dann, so die Logik, hätte ich die Möglichkeit mich weiter zu entwicklen.
Dass man dafür die Lebens-Notwendigkeiten abgedeckt haben sollte – also ein Dach über dem Kopf, Gesundheit, Essen, kostenlose Bildung – und Regula Stämpfli für das bedingungslose Grundeinkommen eintritt, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt. Es trifft aber wohl einen relevanten Punkt in dieser Geschichte. Denn die existenziellen Ängste scheinen zu den wichtigsten Gründen zu gehören, warum sich Menschen dazu entscheiden, ihre Träume und Wünsche nicht zu verfolgen. In vielen meiner Gespräche kommt irgendwann die Erkenntnis, dass viele meinen, sich die Verwirklichung eines Lebenstraumes nicht leisten zu können.
Von der Unzufriedenheit
Während ich meine persönliche Weiterentwicklung an der Unzufriedenheit mit dem Status Quo festmache, ist Regula Stämpfli da schon viel radikaler. „Der Krieg bricht über dich herein. Und du wählst für dich eine Form des Friedens – für dich und deine Liebsten.“ Was sie meint ist letztlich die Auseinandersetzung des einzelnen mit dem System, in das er hinein geboren wurde, indem er sich entscheidet, was für ein Leben er führen möchte.
Ich fühle mich zurückerinnert an mein Gespräch mit Cecile Nordegg, die mir die Frage stellt, “Was glaubst du, was es dich kostet nicht so zu leben?”. Und ganz plötzlich wird mir klar, dass nur die Menge an Lebenserfahrung zu dieser Einsicht führen kann.
Ob man was zu sagen hat und dies auch vertreten kann, hängt letztlich davon ab, ob man etwas erlebt hat – ob man sich getraut hat zu leben. Ich habe das Gefühl, Regula Stämpfli hat im Leben so manche Entscheidung nur deshalb getroffen, weil sie selbstbestimmt leben wollte. Und so spricht sie nicht nur, sondern hat auch was zu sagen. Das ist schön, fand ich schon während unseres Treffens und genoss deshalb umso mehr die kostbare Zeit, die uns geblieben war.
Im Nachhinein frage ich mich, was Trump wohl zu unseren Themen und unserem Gespräch gesagt hätte.