Die Geschichte beeinflusst uns immer. Und damit meine ich nicht nur diejenige Geschichte, die wir selbst erlebt und gestaltet haben, sondern auch die Geschichte, die sich noch vor unserer Zeit ereignet hat. Die Geschichte, für die wir nichts können, die aber unseren Alltag, unsere Familien und Mitmenschen, unser Tun und unsere Glaubensgrundsätze als Ganzes durchzieht.
Über die kollektive Erinnerung der Hannah Lessing
Hannah Lessing hat von Berufs wegen viel mit Geschichten zu tun – und zwar mit einem eher dunklen Kapitel unserer Geschichte. Als Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (https://www.nationalfonds.org) kümmert sie sich seit 1995 um die Erbringung von Leistungen an NS-Opfer. Und während immer weniger ZeitzeugInnen am Leben sind, rückt das Bewahren unserer kollektiven Erinnerung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit.
Wir sitzen in ihrem Büro. Es sind die ersten Tage des neuen Jahres und kaum jemand außer uns ist im Gebäude. Ruhe hat sich über die Stadt gelegt und so hat sie Zeit zu erzählen – von ihrer Jugend, ihren Eltern, dem Judentum, von der Herausforderung vielfältige Geschichten aufzunehmen und davon, wie gut es oft tut jemanden von einem alten, unterdrückten, Leid zu erzählen.
Leicht ist unser Gespräch keineswegs, obwohl es kaum halt macht. Vielleicht gerade noch so lange um das eine oder andere Mal die richtigen Worte zu finden über Wahrheiten, die wir uns selbst nicht öffentlich eingestehen wollten.
Sie sprüht vor Kraft. Freude durchzieht sie. Und irgendwie ist da aber auch eine Melancholie, die im Hintergrund ihrer Erzählung mitschwingt. Zwei Stunden vergehen wie im Flug und wir entscheiden uns doch noch runter zu gehen, ins Archiv, obwohl unsere nächsten Termine bereits warten. Und dann stehen wir inmitten der Geschichte. Ein großer Raum, voll mit Bürocontainern, voll mit Anträgen von Menschen, von Familien. Manche nur ein paar Seiten dick. Andere füllen ganze Laden.
Und so werde ich ganz nüchtern mit dem konfrontiert, das von einem bleibt. Einem Stück Papier in einem Keller. Und sie sagt mir, dass sie immer noch daran glaubt, dass die Geschichte uns lehrt. Auch deshalb macht sie den Job, weil sie damit etwas bewirken will. Papier soll nicht einfach nur Papier bleiben, denke ich mir und bin mir gleichzeitig sicher, dass die Geschichte uns immer lehrt. Ob wir zuhören und daraus lernen wollen steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt geschrieben.
Wir müssen nur zuhören
So wie sich mir das heute darstellt, lässt es sich aus der Geschichte am besten lernen, indem man sie selbst erfährt. Fragen und zuhören – geduldig zuhören – scheint wohl der Schlüssel zu sein. Und doch müssen wir uns so manches Mal damit abfinden, dass sich die Geschichte uns gegenüber verschließt, dass sie uns nicht im vollen Umfang erzählt wird.
Manches werden wir nie ändern können, weil es sich nicht ändern lässt.* Es ist zu sehr in sich verwachsen und lässt sich von uns nicht entwirren. Und einiges werden wir nicht ändern können, weil die Zeit dafür bereits vorbei ist. Und doch liegt für die meisten von uns viel mehr in unserer Hand als wir uns oft zutrauen.
Wir müssen nur zuhören. Dann erfahren wir vielleicht wer und warum wir sind.
— ENDE —
Mit diesem Beitrag ist Hannah Lessing zum Teil der #WORKINGPEOPLE Fotoserie geworden.